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Kastanienliebe (Teil 1)

Passend zum Herbst gibt es heute eine neue Geschichte.

Und für alle, die gerne wissen möchten, wie es weitergeht:

Fortsetzung folgt in der nächsten Woche ...

Foto © Christine Rieger

 

Er war lange nicht mehr hier. Viel zu lange. Doch nun ist er zurück. Aber nichts ist mehr so wie damals, als er Hals über Kopf verschwand – mit nichts als einem Rucksack, seiner Gitarre und den Kleidern, die er auf dem Leib trug.

 Niemand ist zu sehen, als er die staubige Hauptstraße entlangläuft. Schließlich ist Mittagszeit – da sitzen die braven Leutchen normalerweise beim Essen, wie es sich gehört. Und doch bleibt seine Ankunft nicht unbemerkt. Neugierige Blicke hinter zugezogenen Vorhängen folgen ihm, bis er den Dorfplatz erreicht hat.

 Unter der hohen Kastanie, die ihren Schatten über den Brunnen wirft, steht eine verwitterte Holzbank. Lorenz setzt sich vorsichtig in die Mitte. Die Bank sieht nicht allzu vertrauenerweckend aus – eher so, als würde sie in der nächsten Minute zusammenbrechen. Er schließt die Augen, blendet so das Sonnenlicht aus, das zwischen den Blättern hindurch scheint und bizarre Muster auf den Boden zu seinen Füßen malt. Seine Gedanken gleiten zurück in die Vergangenheit – zu dem Tag, der dazu führte, dass er vor mehr als dreißig Jahren seinen Geburtsort fluchtartig verließ und nie mehr zurückkehrte. Bis heute.

 Er erinnert sich, als sei es gestern gewesen. Der Kastanienbaum, unter dem er jetzt sitzt, war damals ein kleines Bäumchen – vielleicht eineinhalb Meter hoch, mit einem Stamm, nicht viel dicker als ein Besenstiel. Katharina, die Tochter des Huberbauern, dessen Hof an den seines Vaters grenzt, hat diesen Baum gepflanzt.

 Ihre Liebe zu Kastanienbäumen stammte schon aus ihrer Kindheit. Nach jedem Winter erwartete sie ungeduldig den Moment, in dem die dicken, hellgrünen Knospen an den Ästen erschienen, die sich nach und nach zu Blättern entfalteten. Ende April oder Anfang Mai fingen die Bäume an zu blühen – große, kerzenförmige Blüten in weiß oder rot tüpfelten dann den Blätterwald. Das Wichtigste war für Katharina aber nicht der Schatten, den die Bäume im Sommer warfen, sondern die braunen, glänzenden Früchte. Lange, bevor die stachligen Kapseln von alleine herabfielen, pilgerten die Dorfkinder schon zur Kastanienallee außerhalb des kleinen Ortes und versuchten, die Früchte herunterzuschütteln oder mit Steinen und Stöcken abzuschießen. Dass die so erbeuteten Kastanien noch nicht richtig reif waren, spielte keine Rolle.

 Katharina und Lorenz waren gleichaltrig und schon als Kinder unzertrennlich. Für jeden im Dorf stand fest, dass die beiden heiraten würden, wenn sie alt genug dazu waren. Sie waren acht, als sie eines Tages im Herbst beschlossen, von den gemeinsam gesammelten Kastanien jeweils eine in einen Blumentopf mit Erde zu stecken. Derjenige, dessen Pflanze an Katharinas achtzehntem Geburtstag die größere war, durfte seinen Baum dann am Dorfplatz einpflanzen.

 Die Bäumchen wuchsen heran, genauso wie die beiden Kinder.

 Katharinas 18. Geburtstag wurde mit einem großen Fest gefeiert, an dem alle Dorfbewohner teilnahmen. Nach dem Abendessen wurden beide Bäumchen gemessen. Katharina gewann den Wettstreit – um zwei Zentimeter. Mit großem Hurra und unter dem Beifall der Dorfbewohner setzte sie ihren Kastanienbaum neben dem Brunnen in die Erde. Als Krönung des Abends gab der Bürgermeister Katharinas Verlobung mit Marek, dem Sohn eines Großgrundbesitzers aus dem Nachbarort, bekannt.

 Die doppelte Schmach traf Lorenz bis ins Mark. Noch in der gleichen Nacht, als die Dorfbewohner schlafen gegangen waren, packte er seinen Rucksack, etwas Proviant und seine geliebte Gitarre und verließ das Dorf, um nie mehr wiederzukommen.

 Was ihn dazu trieb, nach all diesen Jahren zurückzukehren, hätte er nicht zu sagen gewusst. Doch nun ist er hier. Sitzt unter der Kastanie, die zu einem stattlichen Baum geworden ist, und denkt an die Vergangenheit …

 Er muss wohl ein bisschen eingenickt sein und fährt erschrocken hoch, als es plötzlich laut kracht. Unter dem dichten Blätterdach hat er nicht bemerkt, dass ein Gewitter herangezogen ist – eins von denen, die in den Bergen sehr plötzlich aufziehen und sich dann mit ohrenbetäubendem Krach entladen. Im nächsten Moment beginnt es zu schütten, als hätte jemand ein Schleusentor geöffnet.

Mit einem Satz springt Lorenz von der Bank. Es ist nicht geraten, hier sitzen zu bleiben – er weiß sehr wohl, dass Blitze sich immer den höchsten Punkt suchen, um einzuschlagen. Hastig flüchtet er aus dem Schatten des Baumes. In Sekundenschnelle ist er vollkommen durchnässt. Das Wasser läuft ihm in den Kragen und durch die Hosenbeine wieder hinaus. Ob es wohl die alte Dorfkneipe noch gibt? Soweit er sich erinnert, steht sie neben der Kirche. Früher hatten die Bauersfrauen immer gelästert, ihre Männer seien sonntags in jener Kirche, in der die Gebetbücher Henkel haben …

 Bei dieser Erinnerung muss er unwillkürlich grinsen. Mit langen Schritten rennt er durch den strömenden Regen. Ja, da ist der ‚Dorfkrug’ noch. Eine mit Kreide beschriebene schwarze Tafel verkündet, dass es heute zum Mittagstisch Schweinebraten mit Klößen und Sauerkraut gibt. Genau das Richtige.

Er reißt die Türe auf und stapft hindurch. Das Lokal ist leer, bis auf eine Frau, etwa in seinem Alter. Sie trägt ein rotes Dirndl mit einer karierten Schürze, hat ihr einstmals dunkles, jetzt mit grauen Strähnen durchzogenes Haar zu einer Krone aufgesteckt und poliert Gläser. An einem der Tische hockt ein jüngerer Mann, mit dem Rücken zum Eingang. Vor ihm steht ein Laptop, den er mit irgendwelchen Daten füttert. Er beachtet Lorenz nicht.

 Die Frau hinter der Theke legt ihr Geschirrtuch beiseite.

 „Schön, dass du wiedergekommen bist!“, sagt sie.

 Er glaubt seinen Augen und Ohren nicht zu trauen. „Katharina?“, fragt er zaghaft.

 „Ja, ich bin es, Lorenz. Und das“ – sie deutet auf den jungen Mann am Laptop – „ist Toni. Dein Sohn!“

 

 

© Christine Rieger / 2015

 

 

 

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