Sie waren das, was man ‚beste Freundinnen‘ nennt. Seit dem Tag ihrer Einschulung kannten sie sich – Alina, Julia, Carolin und Jennifer. Gemeinsam hatten sie die Grundschule hinter sich gebracht, waren geschlossen auf die Realschule gewechselt, hatten zusammen gelernt und sich durch die Abschlussprüfungen gekämpft. Doch dann trennten sich ihre Wege. Carolin absolvierte eine Schneiderlehre und eröffnete danach einen Handarbeitsladen, in dem sie alles verkaufte, was für die ‚Eigenproduktion‘ von Kleidung notwendig war: Wolle, Stoffe, Nähgarn, Reißverschlüsse, Strick- und Häkelnadeln, Knöpfe, Borten, Spitzen, und und und ... Sie veranstaltete regelmäßig Handarbeitskurse und stand ihren ‚Schülerinnen‘ mit Rat und Tat zur Seite.
Julia heuerte bei der Polizei an und arbeitete mittlerweile bei der Drogenfahndung.
Alina durchlief eine Ausbildung bei der örtlichen Zeitung, leitete die Rubriken ‚Wirtschaft‘ und ‚Lokales‘, und hatte es inzwischen zur stellvertretenden Chefredakteurin gebracht.
Nur Jennifer fiel aus dem üblichen Rahmen. Sie dümpelte mal hier, mal dort herum, versuchte es mit den verschiedensten Jobs (dank begüterter Eltern hatte sie es nicht nötig, unbedingt Geld verdienen zu müssen), und war letzten Endes bei der Kunst hängen geblieben. Sie malte, töpferte, schrieb Theaterstücke und Filmdrehbücher, zeichnete Comics, stand gelegentlich selbst auf der Bühne, oder sie wirkte bei der Produktion von Hörbüchern mit – wie es sich eben ergab. Und das alles mit mehr oder weniger regelmäßigem Einkommen, aber dafür sehr viel Freizeit.
Endlich hatten sie es wieder einmal geschafft, sich alle vier zu treffen – in ihrem Lieblings-Café in einem sehr versteckten Winkel der Stadt. Das kannten die wenig-sten – noch. Jennifer hatte es eines Tages bei ihren Streifzügen zufällig entdeckt, und dann ihre drei Freundinnen hierher gelotst. Seitdem trafen sie sich von Zeit zu Zeit hier. Der Kaffee schmeckte großartig (es gab in der ganzen Stadt keinen besseren, behauptete Jennifer), und die Torten waren ein Traum!
Die Verabredungen erfolgten über eines der sozialen Netzwerke, die in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen. Eine von ihnen schlug einen Termin vor, und wer von den anderen Zeit hatte, kam. Es klappte hervorragend!
Allerdings geschah es äußerst selten, dass alle vier gleichzeitig aufkreuzten. Job und Familie ließen ihnen nur wenig Zeit für das eigene Vergnügen.
Außer Jennifer waren alle verheiratet und hatten Kinder – Julia eins, Alina zwei, und Carolin sogar vier. Jennifer dagegen hatte á la carté gelebt und geliebt, und ihre Partner häufiger gewechselt als ihre Freundinnen die Unterwäsche. Kinder? Um Himmels willen! Dafür hätte sie ja ihre Freiheit aufgeben müssen!
Nachdem die Freundinnen sich ausgiebig begrüßt und ihre Lieblings-Torten bestellt haben, werden die Neuigkeiten der vergangenen zwei Monate ausgetauscht. War ihr letztes Treffen tatsächlich schon soooo lange her?
Jennifer führt – wie so oft – das Wort. Sie ist ungeheuer mitteilsam und wird nicht müde, von ihren Aktivitäten, ihren zahllosen Bekannten und ihren eingebildeten Krankheiten zu erzählen.
Die anderen drei hören eine ganze Weile schweigend zu – aber schließlich ergreift Carolin das Wort.
„Was macht ihr in diesem Jahr am Muttertag?“, fragt sie in die Runde – nur, um endlich ein anderes Thema aufs Tapet zu bringen, und die detailgetreue Schilderung von Jennifers neulich absolvierter Magen- / Darmspiegelung abzuwürgen. Das ist ja nun weiß Gott kein Thema für einen Kaffeeklatsch – schon gar nicht in aller Öffentlichkeit!
Irritiert unterbricht Jennifer ihren Monolog.
„Gar nichts“, knurrt sie, ungehalten über die Unterbrechung. „Ich habe keine Kinder. Warum sollte ich Muttertag feiern?“
„Aber du hast doch eine Mutter!“, sagt Alina.
„Die mag diesen blöden Feiertag überhaupt nicht. Sie fährt jedes Jahr um diese Zeit mit Papa in irgendein Kurbad. Recht hat sie!“
„Ich hasse den Muttertag eigentlich auch!“, gesteht Carolin. „Jedes Jahr ist das ein grauenhafter Stress – jedenfalls für mich!“
„Wieso?“, will Julia neugierig wissen.
„Also, bei uns läuft dieser Tag gewöhnlich so ab: Morgens um halb sechs springen alle vier Kinder auf mein Bett und küssen mich von oben bis unten ab. Dann leiern sie mir zur ‚Erbauung‘ ein Verslein vor, das man ihnen in der Schule eingetrichtert hat, klatschen mir einen Strauß Flieder auf den Bauch, den sie im Garten abgerupft haben, und erwarten auch noch, dass ich mich darüber freue! Vor zwei Jahren durfte ich anschließend mehrere Krabbeltiere aus meinem Bett sammeln, die sich in dem Grünzeug eingenistet hatten!
Im vergangenen Jahr hat meine bessere Hälfte bei dem Versuch, mir den Kaffee ans Bett zu bringen, nicht nur die halbe Küche verpladdert, weil er vergessen hat, die Kanne unter den Filter zu stellen. Nein – er hat es obendrein fertig gekriegt, mir den schäbigen Rest, den er retten konnte, übers Nachthemd und die Bettdecke zu kippen. Weil er die Tasse nicht abgestellt hat, bevor er versucht hat, mich zu küssen! Mein Ältester kam mit meinem ‚Frühstück‘ angetrabt – zwei Scheiben verkokeltem Toast auf einem uralten Schinkenbrett, fingerdick mit Butter beschmiert – vermutlich, damit man das Angebrannte nicht so sieht –, und einem Ei, für das ich einen Waffenschein beantragen musste. Das Ding war steinhart – wenn es runtergefallen wäre, hätte heute das Parkett ein Loch!“
Die drei Freundinnen wiehern los. Die Schilderung Carolins ist aber auch zu komisch!
„Jetzt wundert mich nicht, dass du zu diesem ‚Festtag‘ ein sehr gespaltenes Verhältnis hast!“, meint Alina mitleidig, als sie endlich wieder Luft bekommt. „Ganz so schlimm ist es bei uns zum Glück nicht mehr. Meine beiden Jungs sind ja schon im Teenager-Alter. Aber dafür fallen uns jedes Jahr unsere Mütter und Väter ins Haus und erwarten, dem Feiertag entsprechend bekocht und verwöhnt zu werden, und ...“
„Ich habe eine Idee!“, unterbricht Jennifer plötzlich.
Drei Augenpaare sehen sie fragend an.
„Wir feiern in diesem Jahr Muttertag mal anders!“
„Und wie stellst du dir das vor?“, will Alina wissen.
„Wir treffen uns am Abend vorher bei mir. Wir gehen zusammen essen, und dann könnt ihr alle bei mir schlafen. Platz ist genügend – meine Eltern sind ja nicht da. Am Muttertag veranstalten wir einen ausgiebigen Brunch, und wenn das Wetter es zulässt, schippern wir danach mit einem der Ausflugsboote über den Bodensee. Kaffee und Kuchen gibt es an Bord, auch kleine Snacks. Na, was haltet ihr davon?“
„Wow! Was für ein toller Einfall! Ich bin dabei! In diesem Jahr darf mein Mann sich um unsere Mütter undVäter kümmern!“, meint Alina mit einem spitzbübischen Grinsen.
„Ich komme auch!“, verkündet Julia sofort.
„Aber was sollen wir unseren Männern sagen?“, fragt Carolin zögernd.
„Erzählt ihnen einfach, ich hätte euch eingeladen“, schlägt Jennifer vor. „Immerhin ist das nur ein kleines bisschen gelogen. – Zu vorgerückter Stunde könnt ihr natürlich nicht mehr Auto fahren, weil wir uns einen angetüddelt haben – das muss ja nicht wirklich stimmen!“ Verschwörerisch zwinkert sie ihren Freundinnen zu. „Und wenn ihr bei mir euren Rausch ausgeschlafen habt, kommt ihr nach Hause. Dass ihr dafür den ganzen Tag braucht, könnt ihr doch vorher nicht wissen!“
„Auf so einen Einfall kannst nur du kommen!“, stellt Alina bewundernd fest. „Also – seid ihr alle dabei?“
„Hm, ich weiß nicht so recht!“ Carolin ist immer noch skeptisch. „Das gibt mir irgendwie das Gefühl, ich hätte meine Familie im Stich gelassen ...“
„Du musst ja nicht – deine Teilnahme ist freiwillig!“, erklärt Jennifer kategorisch. „Wenn du statt einem fröhlichen Mädels-Tag lieber wieder das ganze ‚Mami-ich-hab-dich-soooo-lieb-Getue‘ mit Käfern im Bett und Kaffee auf dem Bauch über dich ergehen lassen willst ...“
Das gibt denn Ausschlag.
„Also gut – ich komme auch!“, sagt Carolin entschlossen.
„Super!“ Jennifer winkt die Kellnerin heran und bestellt vier Gläser Champagner.
„Stoßen wir an – auf unseren ‚alternativen Muttertag‘, verkündet sie fröhlich, und hebt ihr Glas.
© Christine Rieger
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