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Sonntagmorgen

 

Wann hat sie zum letzten Mal um halb sieben Uhr morgens Kirchenglocken gehört? Rita erinnert sich nicht. Es muss lange her sein. Doch damals erschienen ihr diese Glocken wie die Heimsuchung durch das Jüngste Gericht.

 

Es war irgendwann im Urlaub, fällt ihr nach längerem Überlegen ein. Irgendwo im Gebirge. Sie und Martin wohnten damals in einem Hotel ganz in der Nähe der Dorfkirche. Es musste irgendein katholischer Feiertag gewesen sein – Fronleichnam, Pfingsten oder Christi Himmelfahrt. Jedenfalls wurden sie damals um sechs Uhr morgens von den Kirchenglocken aus dem Tiefschlaf gerissen.

 

Kaum war der letzte Ton verklungen, begann der Posaunenchor des Ortes zu spielen. Besser gesagt, zu lärmen. Begleitet von schrillen Misstönen. Offenbar war unter den Posaunisten ein Anfänger, der zum ersten Mal öffentlich auftreten durfte und vor lauter Aufregung sein Instrument und das Gehör seiner Mitmenschen mit ziemlich schrägen Tönen malträtierte. Wie in dem Film ‚Die Blechtrommel’, dachte Rita unwillkürlich. Und das direkt unter ihrem Fenster!

 

Rita, erst gegen vier Uhr in einen unruhigen Schlaf gefallen, fuhr abrupt in die Höhe. Vor Schreck stieß sie gegen das hölzerne Regal, das anstelle eines Nachtschränkchens über dem Bett angebracht war. Eine Vase aus Muranoglas, zur Dekoration dort abgestellt und eigentlich viel zu schwer für das schmale Holzbrettchen, kippte um, fiel ihr auf den Kopf und hinterließ eine dicke Beule. Kein Wunder, dass Rita seither zu Kirchenglocken und Posaunenchören ein sehr gespaltetes Verhältnis hat!

 

An diesem Sonntagmorgen im Mai stören die Glocken nicht. Die Kirche ist weit entfernt. Der Klang fügt sich harmonisch in die morgendliche Stille ein.

 

Tief atmet Rita den Duft des Flieders ein, der vom Nachbargrundstück herüber weht. Dicke lilafarbige Blütendolden bewegen sich in der leisen Frühlingsluft. Ein Amselpärchen sucht im Gras nach Nahrung – oder nach Material für sein Nest. Ohne Brille kann sie das nicht genau erkennen. Tautropfen glitzern auf den frischen Grashalmen und den Blüten der Gänseblümchen. Es ist ein Bild von solchem Frieden …

 

Wie lange noch?

 

Nur wenige Flugstunden von hier ist Krieg. Menschen sitzen angsterfüllt in Kellern und U-Bahn-Stationen, ohne Getränke, ohne Essen, ohne sanitäre Anlagen – Frauen, Kinder, alte Menschen, die keine Möglichkeit hatten, das Land zu verlassen. Sie hören Sirenen, Einschläge von Bomben, sehen Feuer lodern, wo die Geschosse detoniert sind. Wasser und Elektrizität gibt es längst nicht mehr. Das Handynetz ist zusammengebrochen. Sie haben keine Nachricht von ihrer Familie oder ihren Freunden, von denen viele ins Ausland geflüchtet sind. Frauen bangen um ihre Männer an der Front, Kinder um ihre Väter. Viele sind krank; Medikamente gibt es so gut wie gar nicht mehr. Oder die Menschen wagen es nicht, ihren Unterschlupf zu verlassen und zu einer Apotheke zu gehen, in der Hoffnung, nicht nur noch Trümmer vorzufinden. Auch Ärzte sind Mangelware – die meisten sind an die Front geschickt worden, um Kriegsverletzte zu behandeln. Wer krank wird oder sich verletzt, hat Pech gehabt ...

 

Die Amseln holen Rita in die Wirklichkeit zurück. Ein dritter Vogel ist aufgetaucht. Ein Männchen, nach dem Federkleid und dem auffallenden gelben Schnabel zu urteilen. Zwischen den beiden männlichen Vögeln entwickelt sich ein Kampf – hin und her, mit lautem Gezeter und Imponiergehabe. Das Weibchen geht unbeirrt der Futtersuche nach, als ginge sie das Ganze überhaupt nichts an.

 

Genau wie bei den Menschen, geht es Rita durch den Kopf. Zwei Nachbarstaaten mit einer gemeinsamen Grenze attackieren sich mit Bomben und Granaten. Soldaten erschießen gnadenlos Frauen, Kinder, ältere Menschen … junge Männer werden als Kanonenfutter an die Front gejagt oder gehen freiwillig, um ihr Land zu verteidigen … Panzer walzen fruchtbare Felder nieder …

 

Und der Rest der Welt lebt weiter wie immer.

 

Der Kontrast zwischen beiden Bildern in ihrem Kopf ist kaum zu ertragen. Auf der einen Seite der Krieg, und auf der anderen dieser himmlische Frieden des Sonntagmorgens – wie passt das zusammen?

 

Und wieder dieser schreckliche Gedanke: Wird dieser Krieg irgendwann auf Deutschland oder gar die ganze Welt überschwappen? Werden auch wir demnächst auf gepackten Koffern sitzen, bereit, von jetzt auf gleich zu verschwinden? Unsere Heimat, unsere Wohnung, alles, was uns lieb und teuer ist, zurückzulassen – in der vagen Hoffnung, irgendwo auf der Welt dem Wahnsinn zu entkommen? Und – vielleicht – irgendwann zurückzukehren und nur noch Trümmer vorzufinden?

 

Oder wird die Vernunft siegen und die kriegführenden Parteien setzen sich an einen Tisch und verhandeln?

 

Rita fröstelt plötzlich in der kühlen Morgenluft, trotz des Bademantels, den sie über ihrem Nachthemd trägt. Hastig schließt sie das Fenster, um noch einmal zurück ins Bett zu kriechen.

 

Doch einschlafen kann sie nicht mehr. Der Gedanke lässt sie nicht los: Wie lange werden uns noch so friedliche Tage vergönnt sein, bevor auch hier die Hölle losbricht?

 

Wie lange noch?

 

 

© Christine Rieger / 2022

 

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