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Paketpost

 

Mozartstraße 14. Mit einem Ruck hält der helle Kleintransporter eines Paketdienstes vor der Haustür. Die Fahrertüre wird aufgerissen. Eilig springt eine blonde Frau heraus, hastet zum Heck und reißt die Klappe auf. Immer diese Hektik! Viel zu viele Pakete, zu wenig Zeit. Und das Gehalt - naja, Schwamm drüber. Immerhin noch besser als arbeitslos!

 Fünf Pakete hat sie heute für dieses Haus. Für vier verschiedene Adressaten. Hoffentlich erwischt sie die alle – es kostet Zeit, in jeden Briefkasten einen Zettel zu werfen, der den Empfänger über die vergebliche Zustellung informiert. Zeit, die sie nicht hat …

 Einer der Kartons ist bleischwer. Eigentlich zu schwer, obwohl Carola Hönig alles andere als schwächlich ist. Aber es hilft nichts. Es ist nun mal ihr Job.

 Endlich hat sie die Pakete zur Haustüre geschleppt und klingelt. Doch niemand öffnet. Die Leute sind vermutlich alle in der Arbeit. Oder sie schlafen noch. Sie versucht es noch einmal. Wieder ohne Erfolg. Bleibt nur noch Konstanze Stadelbauer. Die alte Dame wohnt im Parterre und ist ihre letzte Hoffnung. Gerade will sie auf den Klingelknopf drücken, als ein lautes Quietschen hinter ihr ertönt. Carola grinst. Das kann nur Dimitri sein. Sein alter Lieferwagen ist längst schrottreif, aber einen neuen kann er sich nicht leisten. Er fährt – genau wie sie – Pakete aus. Als Subunternehmer für eine Konkurrenzfirma. Schnaufend stellt er zwei größere Kartons neben der Haustüre ab.

 „Guten Morgen, Carola!“, grüßt er freundlich. „Wieder niemand zu Hause?“

  Die beiden kennen sich gut. Nicht nur, weil sie bei ihren täglichen Fahrten öfter aufeinandertreffen – nein, sie wohnen obendrein im gleichen Haus.

 „Immer das Gleiche“, seufzt Carola. „Die Leute kaufen die Versandhäuser leer – aber wenn dann die Lieferung kommt, sind sie nicht zu Hause …“

 „Was ist mit Frau Stadelbauer?“, fragt Dimitri. Die ältere Dame ist bei allen Paketdiensten nicht nur bekannt, sondern oft die einzige Anlaufstelle. Ihr Flur gleicht ab und an einem Postamt. Sämtliche Zusteller haben es sich zur Gewohnheit gemacht, bei ihr zu läuten, wenn sonst niemand öffnet.

 „Ich wollte gerade bei ihr klingeln!“, sagt Carola. Das tut sie nun auch. Doch niemand rührt sich. Sie läutet noch einmal, lange und aufdringlich. Nichts.

 „Irgendwie kommt mir das verdächtig vor!“, bemerkt Dimitri. „Sie hat schon gestern Nachmittag die Türe nicht aufgemacht, und das ist sehr ungewöhnlich!“

 „Hm, wirklich komisch!“, bestätigt Carola. „Ob sie wohl verreist ist?“

 „Sicher nicht!“ Dimitri schüttelt entschieden den Kopf. „Sie hat das Haus kaum noch verlassen, seitdem ihr Mann vor drei Jahren verstorben ist. Und jetzt kann sie es nicht mehr. Jedenfalls nicht ohne Hilfe“.

 „Woher weißt du das so genau?“ fragt Carola neugierig. „Hat sie dir ihre Lebensgeschichte erzählt?“

 „Quatsch. Oben in der zweiten Etage wohnt ein Freund von mir. Seine Frau schaut ab und zu nach Frau Stadelbauer und kauft auch für sie ein. Denn seit einem schweren Sturz vor ein paar Monaten kann die alte Dame nur noch mit Hilfe eines Gehwagens ein paar Schritte machen …

 „Och, die Ärmste“, sagt Carola mitleidig. „Hat sie denn keine Kinder?“

 „So viel ich weiß, nicht. Nur einen Papagei. Der Käfig steht im Flur, und ich habe das Vieh ab und zu fürchterlich fluchen hören!“ Dimitri grinst. „Der Vogel hat ein Vokabular, das einer Hafendirne die Schamröte ins Gesicht treiben würde! – Aber was machen wir denn nun? Wir können ja nicht ewig hier herumstehen. Ich jedenfalls nicht. Ich bin sowieso schon wieder im Verzug mit meinen Lieferungen!“

 „Ich auch!“ Carola langt in ihre Tasche und zieht einen Block heraus, um den Empfängern ihrer Sendungen eine Nachricht in den Briefkasten zu werfen. In diesem Moment wird von drinnen die Haustüre geöffnet. Eine junge Frau, die einen widerstrebenden Rauhaardackel an der Leine hinter sich her zerrt, kommt heraus. In der freien Hand hat sie ein Smartphone, auf dem sie hektisch herumtippt.

 „Entschuldigen Sie - wissen Sie, warum Frau Stadelbauer die Türe nicht aufmacht?“, spricht Dimitri die junge Frau an.

 „Keine Ahnung. Ich kenne keine Frau Stadelbauer. Ich wohne hier nicht. Ich führe nur den Hund von Herrn Sommer Gassi, solange der im Urlaub ist. – Aber … sorry, ich muss los, ich hab’s eilig!“ Weg ist sie.

 Dimitri schüttelt den Kopf. Diese jungen Leute – interessieren sich für gar nichts mehr. Außer für ihre blöden Handys, natürlich!

 Trotz seiner Zeitnot nutzt er die Gelegenheit, springt die wenigen Treppenstufen hinauf, die ins Parterre führen, und hämmert mit der Faust gegen Frau Stadelbauers Wohnungstür.

 „Carola, kannst du schnell mal kommen, ich glaube, ich höre was!“

 Die Angesprochene lässt ihren Schreibblock fallen, rennt nach oben und lauscht. Ganz deutlich hören beide nun eine Stimme, die schwach um Hilfe ruft. Die beiden Paketzusteller wechseln einen kurzen Blick. „Ruf den Rettungsdienst an!“, sagt Dimitri kurz. „Ich versuche, die Türe zu öffnen Hoffentlich hat sie nicht abgeschlossen!“

 Carola stellt keine Fragen, Sie ist froh, dass jemand anderes entscheidet, was nun zu tun ist. Während sie den Notruf ihres Handys betätigt und mit der Rettungsleitstelle telefoniert, zieht Dimitri eine Scheckkarte aus seinem Geldbeutel. Erstaunt beobachtet Carola, wie er sie in den Türspalt schiebt. Innerhalb von Sekunden ist die Wohnungstüre offen.

 Vorsichtig betreten die beiden die Wohnung. Dimitri drückt auf den Lichtschalter. Frau Stadelbauer liegt im Flur, ihr rechtes Bein unnatürlich verrenkt, das Telefon zwei Meter von ihr entfernt am Boden. Offenbar hat sie noch versucht, Hilfe zu rufen. Im schwachen Licht der trüben Deckenlampe ist ihr Gesicht kalkweiß. Aber sie lebt und ist bei Bewusstsein. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, wenn auch nur schwach. „Gott sei Dank, dass Sie kommen!“ Die Stimme der alten Dame klingt sehr leise.

 „Wir haben Sie um Hilfe rufen hören!“, sagt Dimitri. „Ich musste die Türe öffnen. Der Rettungsdienst ist schon unterwegs. – Wie ist das passiert? Haben Sie Schmerzen?“ Die Verunglückte kann nicht mehr antworten. Ihre Kräfte sind erschöpft.

 Von draußen sind Sirenen zu hören. Blaulicht flackert irrlichternd vor dem Fenster. Sekunden später stürmt der Notarzt in die Wohnung, gefolgt von zwei Sanitätern mit einer Krankentrage.

 Carola und Dimitri treten zur Seite, um Platz zu machen. Der Arzt verabreicht Frau Stadelbauer eine schmerzstillende Spritze und legt eine Infusion, bevor er das Bein verarztet.

 „Wird sie durchkommen?“, fragt Carola besorgt, nachdem die Sanitäter mit Frau Stadelbauer die Wohnung verlassen haben.

 „Dank ihrer schnellen Hilfe – ja. Das Bein ist gebrochen und sie ist völlig dehydriert, aber sie wird es schaffen.“

 „Hoffentlich kriege ich keinen Ärger, weil ich die Wohnung quasi aufgebrochen habe!“, meint Dimitri.

 „Sicher nicht. Das war schließlich ein Notfall“, beruhigt der Arzt. „Wie haben Sie das überhaupt so schnell geschafft? Normalerweise sind nur Einbrecher so clever, eine Wohnungstüre in Sekundenschnelle zu knacken!“

 „Nicht nur!“ Dimitri grinst. „Mein Bruder hat einen Schlüsseldienst. Ich habe früher für ihn gearbeitet!“

 „Was für ein Glück für Frau Stadelbauer! Sie haben ihr vermutlich damit das Leben gerettet! – So, ich muss weiter. Der nächste Alarm!“ Der Arzt langt in seine Jackentasche und zieht ein Kästchen heraus, nicht viel größer als ein Smartphone. Nach einem kurzen Blick auf das Display schnappt er sich seinen Notfallkoffer. Im Laufschritt rennt er die Treppen hinunter und aus dem Haus. Sekunden später rast er mit Blaulicht und Martinshorn davon.

 Die beiden Paketboten bleiben ratlos im Flur der kleinen Wohnung stehen.

 „Und was machen wir nun mit unseren Paketen?“, fragt Carola ratlos. „Und mit dem Papagei?“

 „Wir nehmen beides mit!“, antwortet Dimitri trocken. „Die Damen und Herren Paketempfänger werden sich dazu bequemen müssen, ihre Lieferungen ausnahmsweise selbst abzuholen, und den Vogel nehme ich vorerst mit nach Hause. Vielleicht schaffe ich es ja, ihm seine Schimpfwörter abzugewöhnen, bis Frau Stadelbauer aus dem Krankenhaus entlassen wird!“

 „Na, dann viel Spaß!“ Carola geht hinunter, um die aufgestapelten Pakete einzusammeln und in die beiden Autos zu schaffen. Dimitri nimmt den Vogelkäfig. Mit der freien Hand zieht er Frau Stadelbauers Wohnungstüre hinter sich ins Schloss.

 Sie will gerade losfahren, um ihre unterbrochene Tour fortzusetzen, als ihr Kollege mit dem Vogelbauer aus dem Haus kommt.

 „Du blöder, alter Affe!“ hört sie noch, bevor sie grinsend Gas gibt.

 

 

 

© Christine Rieger / 2015

 

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